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"Geld spielt keine Rolle"

Zur Entwicklung alternativer urbaner Gemeinschaften im Kontext von kreativer Repräsentation und "Alter-Aktivismus"

27.10.2011

Projektvorstellung von Julia Obinger, M.A. (Zürich)

Spätestens seit der wirtschaftlichen Hochwachstumsphase nach Ende des 2. Weltkrieges haben sich in Japan Normen und Ideale eines Lebenslaufes verfestigt, die eine bestimmte Ausbildung, Karriere und Familienstruktur, ebenso wie die Erreichung bestimmter Konsum-Ziele beinhalteten. Diese idealen Lebensläufe führten zu materiellem Wohlstand, und der daraus resultierende Besitz von Gütern wurde als Garant für politische Stabilität und persönliches Glück angesehen. Zwar sind seit einigen Jahren auch postmaterialistische (Konsum-)Tendenzen innerhalb bestimmter Gesellschaftsgruppen zu beobachten, jedoch gilt materieller Konsum nach wie vor in Japan als wichtiger Faktor zur Determinierung von individuellem Status und sozialer Teilhabe. Aktuelle sozioökonomische Realitäten erschweren jedoch einer wachsenden Zahl junger Japaner ebendiese Normen in Bezug auf Karrieren, Familie und Konsum zu erfüllen. So stellt sich im Kontext von wachsenden Ungleichheiten und Diskursen um Armutslagen die Frage, ob die Gleichung „Konsum = Glück“ möglicherweise eine Neubewertung erfährt und welche Alternativen sich herausbilden.

Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wurde die Fragestellung des Forschungsvorhabens eingegrenzt auf die Korrelation zwischen Konsum, alternativen Lebensstilen, und Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation. Dabei soll in dieser Arbeit nicht mehr nur der Frage nachgegangen werden, ob tatsächlich finanziell prekäre Lebensumstände immer mit einem mangelnden Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe einhergehen müssen, sondern hier sollen bereits Möglichkeiten der alternativen Partizipationsformen und deren Potential identifiziert werden.

Hierzu wurde eine Untersuchungsgruppe ausgewählt, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale (relativ geringes Alter, urbaner Lebensraum, „Mittelschicht-Sozialisation“, hohes soziales und kulturelles Kapital, finanziell relativ prekäre Situation) im Spannungsfeld zwischen japanischer „Massen-Konsum- Kultur“ und „neuer Prekarisierung“ zu positionieren ist.

Die Mitglieder der Untersuchungsgruppe sind im Umfeld von politisch, sozial und kulturell aktiven Gruppen zu finden, die beispielsweise in den Tōkyōter Stadtteilen Kōenji oder Shimokitazawa, in der Recycle-Shop-Szene oder in Freeter-Gewerkschaften angesiedelt sind.

Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass sich − fast unbemerkt von populären oder wissenschaftlichen Diagnosen um „apathische” junge Japaner − eine Gegenkultur mit eigenen Wertvorstellungen herausbildet: Mitglieder dieser wachsenden Gruppe lösen sich von Karrierewegen und Erfolgskonzepten des Mainstreams ab, wobei die daraus häufig resultierende finanzielle Prekarität hier jedoch nachweislich nicht zu einem grundsätzlichen sozialen Desinteresse oder mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe führt. Als Gegenentwurf zu konventionellen Karrieren sind viele Mitglieder der Untersuchungsgruppe als eigenständige (Klein-)Unternehmer tätig und experimentieren mit alternativen Formen des Wirtschaftens.

Ihre alternativen Lebensentwürfe sind geprägt durch ihr kreatives, soziales und politisches Engagement auf „Grass-Roots-Ebene“, und die Aktivitäten reichen von kreativer Repräsentation bis zu aktivem Protest, wobei den von ihnen initiierten Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Kōenji aktuell besondere Bedeutung zukommt. Zumindest für Teile der Untersuchungsgruppe gilt, dass sie, geprägt durch politische Überzeugung oder Desinteresse an konventionellen Produkten, auch zukünftig nicht am „traditionellen Massenkonsum“ teilnehmen möchten, sondern im Sinne einer Gegenkultur eigene Produkte erschaffen und dem „Selbermachen“ (DIY) eine verstärkte Bedeutung zukommt.

Zentrale Aspekte des Selbstverständnissen der untersuchten Gruppe sind ebenso die positive Umdeutung der Begriffe „Armut“ und „Anarchie“. Eine von japanischen Forschern diagnostizierte „stille Fügsamkeit“ oder „Apathie“ unter jüngeren Japanern ist also in der von mir untersuchten Gruppe nicht zu beobachten. Die vorläufigen Ergebnisse meiner Feldforschung deuten darauf hin, dass hier eine sehr aktive Gruppe zu sehen ist, die das Potential zur breiteren Etablierung alternativer Lebensentwürfe in der japanischen Gesellschaft hat.

In diesem Vortrag sollen diese bisherigen Erkenntnisse anhand von ausgewählten Fallbeispielen erläutert werden, sowie die Bedeutungsdimensionen von DIY-Ökonomien und “Alter-Aktivismus” näher erläutert werden. Ebenso wird auf aktuelle Beispiele im Zusammenhang mit den Anti-Atomkraft-Protesten seit April 2011 eingegangen.