Japan Zentrum
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Dissertationsprojekt Sebastian Balmes (Exposee)

Narratologie und vormoderne japanische Literatur:
Theoretische Grundlagen, Forschungskritik und sprachlich bedingte
Charakteristika japanischen Erzählens

Betreuung: Prof. Dr. Klaus Vollmer

Die Arbeit verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits sollen grundlegende narrative Besonderheiten der vormodernen japanischen Literatur herausgearbeitet werden, andererseits soll ein methodisches Fundament für die erzähltheoretische Beschäftigung mit dieser Literatur geschaffen werden. Beides stellt ein Forschungsdesiderat dar, denn während das an modernen westlichen Erzähltexten entwickelte narratologische Analyseinstrumentarium vereinzelt auch in japanologischen Studien genutzt wird, richtet sich das Erkenntnisinteresse stets auf einzelne Werke oder Autor:innen, nicht aber auf die Theorie selbst. Obwohl narratologische Theorien durchaus von ihren Gegenständen, d.h. historisch und kulturell geprägt sind, gibt es bislang keine Ansätze, die basale narratologische Kategorien überzeugend zurückweisen. In dieser Arbeit geht es daher vornehmlich darum, die Rolle grundlegender Kategorien im Rahmen japanischer Erzähltexte des 10. bis 14. Jahrhunderts herauszuarbeiten, genauer die von Erzählstimme, Perspektive und Distanz.

Während diese Kategorien als universal gelten können, trifft dies keineswegs auf einzelne Modelle und Typologien zu. Im Kapitel ‚Narratologische Grundlagen‘ werden ‚klassische‘ Ansätze wie die von Gérard Genette (1972) kritisch beleuchtet und neuere Theorien, etwa aus der kognitiven Linguistik, diskutiert. Hinsichtlich der Erzählstimme wird der anhaltenden Debatte, ob ein narrativer Text notwendig über eine Erzählinstanz verfügen muss, besondere Beachtung geschenkt. Dabei wird deutlich, dass es sich beim ‚Erzähler‘ um eine abstrakte Textfunktion handelt, die erst von den Rezipienten anthropomorphisiert wird und folglich als Urheber des Textes erscheint. Aus kognitiv-linguistischer Sicht ist diese Funktion, die sich auch als perspektivische Ebene bestimmen lässt, allen narrativen Texten inhärent. Genettes Fokalisierungsmodell ist auch, weil es diese Ebene nicht berücksichtigt, überholt. Innovativer ist der Ansatz von Mieke Bal (1977; 1985), die perspektivische Einbettungsstrukturen beschreibt, allerdings auf problematische Weise auf der strengen Trennung von Wahrnehmungs- und Sprechsubjekt beharrt. Narrative Distanz wird üblicherweise in Abhängigkeit von der An- bzw. Abwesenheit des Erzählers definiert. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass auch der Erzähler als Fokalisierungsinstanz fungieren kann, wäre die Distanz von dieser Definition ausgehend eine bloße Teilmenge der Perspektive. Es wird daher vorgeschlagen, die Distanz ausschließlich anhand des zweiten Kriteriums nach Genette, dem Detailreichtum, zu bestimmen. Entgegen Genettes Theorie verhält sich die Detailliertheit nicht zwangsläufig umgekehrt proportional zum Erzähltempo (was ‚Distanz‘ zu einem Synonym für ‚Dauer‘ machen würde).

Im nächsten Kapitel ‚Narratologische Forschung zur vormodernen japanischen Literatur: Probleme und Chancen‘ wird ein kritischer Überblick über bisherige Studien gegeben. In der japanischen Philologie existiert insbesondere zur Literatur der Heian-Zeit (794–1185) eine Vielzahl an Ansätzen, die narratologische Theoriebeiträge jedoch kaum berücksichtigen. Ein Mangel an terminologischer Präzision zeigt sich zum Beispiel am Begriff gensetsu, der zur Übersetzung des französischen Begriffs discours dient. In narratologischem Kontext sollte gensetsu somit die Erzählung als Makrosprechakt bezeichnen, seine Bedeutung oszilliert aber häufig zwischen ‚Sprache‘ und ‚Formulierung/Ausdruck‘, kann also sowohl extrem weit als auch extrem eng gefasst werden. Derartige Unzulänglichkeiten entbinden jedoch nicht von der Beschäftigung mit der japanischen Forschungsliteratur, und es ist bezeichnend, dass einige der theoretischen Missverständnisse in struktureller Hinsicht Ähnlichkeiten zu Problemen von Modellen der ‚klassischen‘ Narratologie aufweisen. Teilweise erlaubt die mangelnde Beschäftigung mit theoretischen Vorarbeiten auch, jenseits die Grenzen der klassischen Modelle zu blicken.

Neben Übersetzungen von Termini aus westlichen Sprachen werden in der japanischen Forschungsliteratur auch traditionelle Begriffe verwendet, wie sie sich in vormodernen Kommentaren zum Genji monogatari (Anfang 11. Jh.) finden. Eine narratologische Kontextualisierung solcher Begriffe vermag Aufschluss über Besonderheiten vormodernen japanischen Erzählens zu geben. So verdeutlicht die Beschäftigung mit sōshiji (wörtlich ‚Heft-Grund‘) genannten Erzählerkommentaren sowie der Vergleich mit der mittelhochdeutschen Literatur, wie sehr sich die Erzählinstanz japanischer Texte im Hintergrund hält. Weiterhin werden divergierende Verwendungsweisen des Derivats taishōka (‚Objektivierung‘) analysiert, wobei der Begriff in Jinno Hidenoris (2016) Ausführungen – dort mit ‚Objektiviertheit‘ zu übersetzen – im Zusammenhang mit dem Phänomen steht, dass insbesondere in der Literatur der Heian-Zeit Handlungs-, Wahrnehmungs- und Sprechsubjekt oft nicht eindeutig sind.

Um dieses in Graden auftretende ambige Erzählen theoretisch fassen zu können, wird im nachfolgenden und längsten Kapitel ‚Versuch einer Theorie vormodernen japanischen Erzählens‘ die ‚Bestimmtheit‘ als dritte Unterkategorie des Modus der Erzählung nach Genette vorgeschlagen und vom Detailreichtum bzw. der narrativen Distanz abgegrenzt. In einem Unterkapitel zur Distanz wird anhand von Textbeispielen demonstriert, dass – entgegen der gängigen Definitionen – Erzählerkommentare nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die narrative Distanz zulassen. Ferner wird die im Japanischen schwierige Unterscheidung von direkter und indirekter Rede ausführlich thematisiert. Die gelegentlich angestellte Folgerung, dass diese Unterscheidung für das Japanische nicht greift, ist abzulehnen: Vielmehr ist auch in indogermanischen Sprachen von Graden auszugehen, in denen der Sprecher die Perspektive eines anderen Sprechers einnehmen kann. Angesichts von Beispielen, in denen eine Äußerung sowohl als (freie) direkte wie auch als (freie) indirekte Rede angesehen werden kann, scheint auch die Art der Rededarstellung bei der Bestimmung der narrativen Distanz kaum der Orientierung dienen zu können, sodass als unproblematisches Kriterium bloß die Detailliertheit des Erzählten bleibt.

In einem Abschnitt zur Perspektive werden zunächst sprachliche Markierungen von Perspektivierung in vormodernen japanischen Erzähltexten analysiert, wobei – anders als in westlichen Texten – die Morphologie eine besonders große Rolle spielt. Entgegen Genettes und Bals Forderung ist es nur sehr bedingt möglich, zwischen Stimme und Perspektive zu unterscheiden. Anschließend werden verschiedene Fokalisierungsstrategien in klassischen monogatari-Texten sowie in einer ereignisorientierten setsuwa-Erzählung untersucht. Dabei bestätigt sich, dass jede Figurenperspektive nicht nur graduell bestimmt, sondern immer auch in die Perspektive der Erzählinstanz eingelassen ist.

Das Unterkapitel zur Erzählinstanz geht vom vieldiskutierten Genji monogatari aus, für das ein dichtes Netz von Erzählerinnen angenommen wird. Die vorliegende Arbeit kann jedoch zeigen, dass in der Forschung häufig Wissen mit Stimme vermengt wird und dass eher von ‚Informantinnen‘ zu sprechen ist. Vormoderne japanische Erzähltexte suggerieren generell, auf Überlieferungen zu basieren, selbst wenn weitestgehend ‚allwissend‘ erzählt wird. Die ‚personalen‘ Hinweise im Genji monogatari dienen zur Legitimierung des Erzählten und bewirken zugleich, dass die tatsächliche Erzählinstanz in den Hintergrund tritt. Diese lässt sich mit der üblichen Dichotomie ‚homo-/heterodiegetisch‘ nicht erfassen; sinnvoller scheint es, gemäß Kendall L. Waltons (1990) Modell von einer Mischung aus reporting und storytelling narrator auszugehen.

In einem weiteren Unterkapitel wird im Kontext der Aufführungssituation ‚vokaler‘ Literatur die Trennung von textinterner und textexterner Pragmatik infrage gestellt. Anhand narrativer und nicht-narrativer Texte aus dem Shintōshū (Mitte 14. Jh.) wird ein möglicher Zusammenhang von ‚Stimme‘ und Pragmatik untersucht, wobei Stimme als ‚phonische Umsetzbarkeit‘ definiert wird. Je nach dem, wie groß der Anteil phono- bzw. logographischer Schriftzeichen eines Textes ist, ist diesem eine Stimme in unterschiedlicher Intensität inhärent. Somit verfügen japanische Texte neben medialer und konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit (Koch/Oesterreicher 1985) über eine weitere Dimension. Auch wenn kein notwendiger Zusammenhang von Stimme und Pragmatik besteht, lässt sich durchaus eine Tendenz beschreiben.

In der Schlussbetrachtung wird insbesondere der Frage nach der ‚Besonderheit‘ japanischer Literatur nachgegangen. Während die Terminologie, mit der japanische Wissenschaftler:innen auf den angeblichen Sonderstatus der vormodernen Literatur Japans hinsichtlich Perspektivierungstechniken referieren, problematisch ist, haben diese Zuschreibungen einen wahren Kern. Das Fazit lautet, dass vormodernes japanisches Erzählen „objektiv unbestimmter“ als westliches ist, insofern nicht immer eindeutig ist, welche Figur oder Textinstanz spricht oder handelt, zugleich jedoch „subjektiv greifbarer“, da Perspektivierung sprachlich offensichtlicher markiert ist und damit weniger stark von einzelnen Rezipienten abhängig ist.

Die vorliegende Arbeit erschließt die Narratologie erstmals umfassend für die Japanologie und leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Narratologie selbst, indem sie wesentliche Besonderheiten japanischen Erzählens beschreibt und in ihrem Entwurf einer Theorie japanischen Erzählens Vorschläge zur Analyse vormoderner japanischer Texte macht. Die dabei gewonnen Erkenntnisse können Debatten zu narratologischen Kategorien bereichern; weiterhin kann der Theorieentwurf Japanologinnen und Japanologen als methodische Grundlage dienen sowie als Ausgangspunkt für japanologische Studien zu weiteren narratologischen Kategorien wie Zeit, Raum oder Figur.