Japan Zentrum
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Zwischenbilanz(en)

Ein Jahr nach Fukushima

10.05.2012

Vortrag von Dr. Matthias Koch, Freie Universität Berlin

am Donnerstag, 10.05.2012, 18.30 Uhr, im Raum 151, Oettingenstr. 67

veranstaltet vom Japan-Zentrum der LMU und der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Bayern e.V.

Im Zentrum des Vortrages steht die Frage nach Kontinuität und Wandel der japanischen Kernenergiepolitik vor und nach „Fukushima“. Japan und die Welt ziehen Zwischenbilanz nach den Naturereignissen vom 11. März 2011. Megathrust-Erdbeben (kyodai jishin) und Riesenflutwellen (ōtsunami) haben laut Polizeistatistik rund 20.000 Menschen getötet, davon weit über neunzig Prozent Ertrunkene. Erdbeben und Tsunami führten zu einem „auslegungsüberschreitenden Störfall“ (sekkei kijun jishō o koeru jishō) mit drei Kernschmelzen und einer bis heute währenden Abgabe von radioaktiver Strahlung an Luft, Boden und Wasser, in welchen Mengen und welcher Zusammensetzung, darüber gibt es noch keine abschließende, wissenschaftlich autorisierte Auskunft.

Die „nukleare Erdbebenkatastrophe“ (genpatsu shinsai) dominiert seit mehr als einem Jahr nicht nur die japanischen Tageszeitungen, weil sie und ihre Folgen Japans Status in der Weltwirtschaft bedrohen. Mittlerweile liegen mehrere japanische (Zwischen-) Berichte zu den Ursachen und Folgen der Dreifachkatastrophe vor: Vom Kernkraftwerksbetreiber TEPCO (02.12.2011), vom parlamentarischen Untersuchungsausschuß der japanischen Regierung (26.12.2011) sowie von einem Untersuchungsausschuß des privaten Think-Tanks namens Nihon Saiken Inishiatibu (Rebuild Japan Initiative Foundation, 11.03.2012). Der offizielle internationale Fukushima-Zwischenbericht des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR) wird auf seiner Jahresversammlung in der zweiten Hälfte im Mai 2012 vorgestellt werden. Der UNSCEAR-Abschlußbericht ist für 2013 angekündigt. Was sind gesicherte Erkenntnisse, und worin unterscheiden sich die verschiedenen Berichte?

Was sind die Gründe und Ursachen sowie die Folgen des Fukushima-Nuklearunfalls? Ein klassischer Cliff Edge-Effekt spricht zunächst einmal nicht für die „Sicherheitskultur“ der Atomaufsichtsbehörden und des zuständigen Energieversorgungsunternehmens. Was ist vom „Krisenmanagement“ (kiki kanri) zu halten? Was passiert mit den von der Dreifachkatastrophe direkt und indirekt betroffenen Menschen? Wer trägt die Verantwortung für den Nuklearunfall? Wer zahlt die Kosten und kommt für Entschädigungen auf? Wie kommen die Dekontaminierungsarbeiten voran? Wie ist der aktuelle Stand der Diskussionen zur Revision der „Grundzüge der Kernenergiepolitik“ (Genshiryoku seisaku taikō) in Japan?

Die aktuellen Ereignisse werden klarer, wenn man die Geschichte der Kernenergie in Japan im zeitlichen Kontinuum betrachtet. Die sieben Jahrzehnte umfassende Historie kann nicht im Detail besprochen werden, jedoch sollen in Phasen gegliederte Entwicklungslinien zumindest grob aufgezeigt und Bruchstellen der japanischen Kernenergiegeschichte benannt werden, um die Ereignisse des vergangenen Jahres besser verstehen und einordnen zu können.

Auch in Japan begann die Vor- und Frühgeschichte der Atomforschung in den 1930er und 1940er Jahren als militärische Projekt- und Auftragsforschung höheren nationalen Interessen dienender Wissenschaftler. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörten die USA die japanischen Teilchenbeschleuniger und verboten die Kernenergieforschung für mehrere Jahre. Keine drei Monate nachdem Dwight D. Eisenhower als Präsident der USA in einer Rede vor den Delegierten der Organisation der Vereinten Nationen die „Geburtsstunde“ der zivilen Nutzung der Kernenergie für die westliche politische Hemisphäre angekündigt hatte, brachte das 5. und letzte Kabinett von Premierminister Yoshida Shigeru Anfang März 1954 das erste japanische Nuklearbudget – als Nachtragshaushalt mit einem Gesamtposten von 235 Millionen Yen – für das Haushaltsjahr 1954/55 ein.

Innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten entstand durch großzügige staatliche Förderung, internationale Kooperation und Konzentrationsprozesse eine schlagkräftige japanische Nuklearindustrie. Vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung: Seit dem Jahr 2006 ist Tōshiba der weltweit größte Hersteller von Kernkraftwerksanlagen. Setzt die japanische Regierung, wie in der Vor-Fukushima-Zeit, offen und offensiv auf die Unterstützung von Nukleartechnologieexport? Läutet Fukushima das – lange – Ende der Kernenergie in Japan ein oder leuchtet am Ende des Tunnels eine „Renaissance der Kernenergie“ (genshiryoku runesansu) in Gestalt von „Kernreaktoren der 4. Generation“ (daiyon sedai genshiro) in einem neuen Energiemix ergänzt um erneuerbare Energien? Mit welchen Ländern unterhält Japan Kooperationsvereinbarungen auf dem Gebiet der Kernenergie, mit welchen Ländern verhandelt es gerade? Verfolgt Japan noch das Ziel einer geschlossenen – nationalen – Brennstoffkette, wie es die Kernenergiekommission (Genshiryoku Iinkai) in den Langzeitplänen zur Erforschung, Entwicklung und Nutzung der Kernenergie (Genshiryoku no kenkyū, kaihatsu oyobi riyō ni kansuru chōki keikaku) über fast fünf Jahrzehnte hinweg wiederholt formuliert hat?

Die japanische Regierung hat in ihrer Eigenschaft als ideeller Gesamtnutzenkalkulator festgestellt, daß sie in ihrer Abwägung zwischen Volksgesundheit contra Konkurrenzfähigkeit und Rentabilität contra Sicherheit eventuell ein zu hohes (Rest-) Risiko eingegangen ist. Viele Menschen nicht – nur in Japan – fragen sich: War die Dreifachkatastrophe wirklich „unvorstellbar“ und „jenseits aller Erwartungen“ (sōteigai)? Was bedeutet „sicher“ (anzen) im Rahmen einer „probabilistischen Sicherheitsanalyse“ (kakuritsuronteki anzen hyōka), und wie vernachlässigbar und „residual“ ist das nukleare „Restrisiko“ (zan’yo risuku) wirklich? Lehren aus dem Fukushima-Unfall stehen hoch im Kurs. Weltweit unterziehen KKW-Betreiber und Atomaufsichtsbehörden ihre Nuklearanlagen seit einem Jahr Inspektionen und „Streßtests“. Was passiert in Japan, wenn Anfang Mai 2012 auch der letzte der 54 kommerziellen Leistungsreaktoren – Nr. 3 des Tomari-KKW von HEPCO (Hokkaidō Denryoku) – abgeschaltet ist? Der Vortrag gibt einen Ausblick und wagt eine vorsichtige Prognose zu den ersten Amtshandlungen der seit April 2012 neu organisierten japanischen Atomaufsicht (Genshiryoku Kiseichō).