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Sektion Philosophie und Geistesgeschichte -- Session 2

"Für uns heute ist es möglich mit Marx zu brechen!". Prekariatstheorien, Ainu-Revolution und Antijaponismus in Japan 1967–1975

Tilll Knaudt

Anfang der 1970er Jahre machte die japanische Linke eine Wandlung durch, die ihr Verhältnis zu den bis zu diesem Zeitpunkt auch in Japan tonangebenden Marx’schen Konzepten revolutionärer Theorie und Politik veränderte. Die japanische Studentenbewegung hatte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Jahr 1968 meistens anhand der historischen Vorbilder der kommunistischen und sozialistischen Bewegung vor allem Europas — inklusive Russlands und der frühen Sowjetunion — orientiert. Auch nach der Entstehung der Neuen Linken (shinsayoku) in Japan, änderte sich dieser Bezugsrahmen zunächst wenig. Die Studentischen "Parteifaktionen" (tōha) in der Zeit der Besetzungen der Universitäten zwischen 1967 und 1969 orientierten sich an Lenin’schen Konzepten von "demokratischen Zentralismus" und Antiimperialismus, bekämpften den Stalinismus der Kommunistischen Partei Japans mit Trotzkis "Permanenz der Revolution", und lasen von oder über Marx. Gleichzeitig entstanden im Laufe der Universitätsbesetzungen die sogenannten Campus-Kampfkomitees (zenkyōtō), die, analog zu den Studenten in Frankreich, an den kommunistischen Parteien orientierten Organisationsformen der japanischen Neuen Linken ablehnten. Trotzdem unterschied sich die Sprache der Studentenbewegung durch ihre an Mao angelehnte romantisch-soldatische Militanz von der Sprache der linken Studenten in Europa und den USA. Dennoch erhofften sich viele Studenten in Japan, wie in Frankreich und Italien, eine Weltrevolution, die irgendwie durch die Studenten organisiert, und irgendwie durch die Arbeiterklasse getragen werden sollte.
Mit dem Ende der Studentenbewegung auf den Campus der japanischen Universitäten blieb allerdings die Weltrevolution aus. Während das Proletariat der Industrienationen durch die Linken immer weniger als ein Träger einer sozialen Revolution begriffen wurde, verstanden Teile der japanischen Studentenbewegung und Parteifaktionen die antikolonialen und nationalen Bewegungen in der sogenannten "Dritten Welt" — wie Algerien, Kuba, Vietnam oder die Palästinenser — zunehmend als möglicher Bündnispartner in einer weltrevolutionären Bewegung. Gerade in dem Umfeld dieses "Dritte-Welt-Antiimperialismus" enstand in kurzer Zeit eine Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit. Durch ihre zunehmende Zusammenarbeit mit Gruppen von in Japan lebenden Chinesen und Koreanern, Aktivisten der Burakumin, Tagelöhnern in Tōkyō und Ōsaka, und auch jungen Aktivisten der Ainu auf Hokkaidō, entdeckte die japanische Linke in der Zeit des Niedergangs der eigentlichen Studentenbewegung in der sogenannten "inneren Diskriminierung" (uchi naru sabetsu) und der "inneren Kolonie" (uchi naru shokuminchi) eine "dritte Welt", die in der japanischen Nachkriegsgesellschaft selbst verortet wurde. Vordenker dieses ideengeschichtlichen Bruchs mit den Kategorien des modernen Marxismus — vor allem des Klassenbegriff — waren beispielsweise der Aktivist Funamoto Shūji (1945–1975), einem Vordenker der Prekariatstheorien (kyūminron) in Ōsaka-Kamagasaki, der sich 1975 anlässlich des Besuchs der Shōwa-Tennō auf Okinawa selbst verbrannte, und Ōta Ryū (1930–2009), dem Mitbegründer der ersten Parteifaktion der japanischen Neuen Linken 1956, dann 1967 Mitherausgeber der ersten globalen antiimperialistischen Zeitschrift in Japan, der durch seine Ainu-Revolution Theorien der wichtigste Einfluss auf die Entstehung des militanten Antijaponismus (hannichiron) in den frühen 1970 Jahren hatte, um dann in den 1980er Jahren zu einem Antisemiten zu werden.
Der Ideengeschichtliche Bruch mit moderner kommunistischer Theorie im Allgemeinen und Marx im Besonderen trug nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die militante Praxis der Neuen Linken ab den frühen 1970er Jahren in einen terroristischen modus operandi wandeln konnte, vor allem in Form des Bombenanschlags gegen ein Bürogebäude von Mitsubishi in Tōkyō im August 1974, sowie mehren Folgeanschlägen. Ich würde in meinem Vortrag gerne die Gelegenheit nutzen den Übergang in nach-marxistische Theorie und terroristische Praxis der japanischen Neuen Linken zu erläutern.

Zur Gerechtigkeitsdebatte (seigiron) in Japan

Namiko Josefine Holzapfel

Michael J. Sandels Harvard-Kurs und die dazu erschienene Publikation Justice: What's the Right Thing to Do? (2009) haben in den letzten Jahren erneut öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema der Gerechtigkeit gelenkt. Auch in Japan wird Sandel breit rezipiert: Die japanische Übersetzung ist ein Bestseller, das im April und Juni 2010 auf NHK ausgestrahlte Video-Seminar genoss hohe mediale Präsenz. Nach dem Tōhoku-Erdbeben 2011 folgte zudem eine NHK-Sondervorlesung Sandels.
Gerechtigkeit gilt als fundamentaler Wert unserer (politischen) Grundordnung. Deren Verständnis bzw. Definition bestimmt im gewissen Sinne und gibt Aufschluss über politisches und gesellschaftliches Handeln. Sie bildet also ein zentrales politisches Prinzip und kann als Handlungsgrundlage aufgefasst werden. Dennoch wird in der westlichen Literatur der Gerechtigkeitsbegriff in Japan kaum beleuchtet.
Der sich an meinem laufenden Dissertationsvorhaben orientierende Vortrag soll klären, ob Gerechtigkeit als ein (grundlegender) Wert in Japan angesehen wird. Welche Konzeptionen von Gerechtigkeit gibt es in Japan? Wie viel Beachtung wird ihnen geschenkt und wie sind sie gewichtet? Gibt es überhaupt eine Gerechtigkeitsdebatte in Japan? Bei der Behandlung dieser Fragen sollen in einer nicht empirischen, sondern theoretischdeskriptiven Untersuchung besonders gegenwärtige normative Theorien aus den Bereichen Moral- und politische Philosophie (Allgemeine Ethik) in Japan berücksichtigt werden.